Nationalstaaten, Europa, Regionen und …. Makro-Regionen

Regionale Integration als Element der Selbst-Regierung Eurolands

Im letzten Sommer (am 29.6.2012) trafen sich die Regierungschefs der Alpenregionen in Bad Ragaz in der Schweiz. Einerseits war es eines von vielen Ă€hnlichen Treffen, andererseits war das Treffen außergewöhnlich, weil mehr Regionen teilnahmen, weil unter den Teilnehmern Vertreter der italienischen Lega Nord waren und weil es deswegen Aufmerksamkeit in der europĂ€ischen Presse erregte.[1] Das Treffen wurde von seinem Vorsitzenden (Willi Haag, St. Gallen) so zusammengefasst: “Wir wollen den Alpenraum zur ‚Herzkammer‘ Europas ausbauen”.[2]

Das Treffen war die “Konferenz der Alpenregionen”, die anlĂ€sslich der regulĂ€ren Konferenz der “Arge Alp“ (ein vor 40 Jahren, lange vor Schengen und dem Euro, begonnener Zusammenschluss von alpinen Regionen) stattfand. Die Konferenz verabschiedete eine Resolution basierend auf einem Strategiepapier zur Entwicklung einer makroregionalen europĂ€ischen Strategie fĂŒr den Alpenraum.

Die Konferenz war das Ergebnis intensiver Arbeit in mehreren transalpinen Arbeitsgruppen und Organisationen, die in den verschiedenen Phasen der EuropÀischen Integration entstanden waren:

EU: Zehn historische Schritte[3]

1951: Die EuropĂ€ische Gemeinschaft fĂŒr Kohle und Stahl wird von den sechs GrĂŒndermitgliedstaaten ins Leben gerufen
1957: Der Vertrag von Rom schafft die Grundlage fĂŒr einen gemeinsamen Markt
1973: Die Gemeinschaft wÀchst auf neun Mitgliedstaaten an und entwickelt gemeinsame Politiken
1979: Das EuropÀische Parlament wird zum ersten Mal direkt gewÀhlt
1981: Als erstes Mittelmeerland tritt Griechenland bei
1993: Der Binnenmarkt wird vollendet
1993: Durch den Vertrag von Maastricht wird die EuropÀische Union errichtet
1995: Die EU wÀchst auf 15 Mitgliedstaaten an
2002: Euro-Banknoten und -MĂŒnzen werden eingefĂŒhrt
2004: Zehn weitere LĂ€nder treten der EU bei

Alpen: Das Netzwerk:

  • Die Anstrengungen zum Schutz der alpinen Natur sind Ă€lter als die politische Integration und fĂŒhrten 1952, also direkt nach dem Krieg, zu CIPRA[4]  (Commission Internationale pour la Protection des Alpes – Internationale Alpenschutzkommission).
  • WĂ€hrend der ersten Phase der EuropĂ€ischen Integration mit der EuropĂ€ischen Gemeinschaft (sechs GrĂŒndungsmitglieder) und der EFTA (die meisten der ĂŒbrigen westeuropĂ€ischen Staaten) wurde 1972 die Arge Alp[5], eine Organisation der Regierungschefs der zentralalpinen Regionen, gegrĂŒndet.
  • Die erste EuropĂ€ische Renaissance 1985-1992[6] in der Zeit der Auflösung des Eisernen Vorhangs sah im Jahr 1989 auch die Errichtung der Europaregion Tirol-SĂŒdtirol-Trentino[7][8], einer transnationalen Region gebildet aus den Teilen Tirols, die durch den Vertrag von Saint-Germain nach dem ersten Weltkrieg getrennt worden waren.
  • Im selben Zeitraum, in dem die EuropĂ€ische Union durch den Vertrag von Maastricht gebildet wurde, unterschrieben die Staaten des Alpenraums 1991 die Alpenkonvention. Die Alpenkonferenz[9] ist das jĂ€hrliche Treffen dieser Staaten.
  • Nachdem die EU in Funktion getreten war, startete sie das Alpenraum-Programm[10](erste AnfĂ€nge 1997) als Teil ihrer KohĂ€sionspolitik (d.h. ihrer regionalen Politik).
  • Jetzt, in einer Zeit, in der die expandierte EU versucht, sich zu einem Euroland zu konsolidieren, haben sich alle alpinen Regionen mit dem gemeinsamen Ziel einer Makro-Regionalen Strategie fĂŒr die Alpen zusammengeschlossen.[11]

Alle diese Netzwerke existieren nebeneinander, tauschen sich aus und bilden so zusammen ein alpines Netzwerk, in welchem die an transnationalen Projekten arbeitenden FunktionstrĂ€ger jetzt schon mehrere Jahre zusammengearbeitet und in dieser Zusammenarbeit das GefĂŒhl einer „alpinen Familie“ geschaffen haben.[12] Und die ganze Familie ist Teil des Projekts einer makroregionalen Strategie fĂŒr den Alpenraum.

Was diese Gruppe von EuropĂ€ischen Regionen verbindet, ist ihre Geographie, die geformt wurde, als Afrika mit Europa zusammenstieß. Dieser Zusammenprall erzeugte nicht nur das Hochgebirge, sondern auch die umgebenden Becken, und diese Formation ist z.B. am Matterhorn mit seinem Gipfel aus Gneisen vom afrikanischen Kontinent, sehr gut zu sehen:

[13]

Wie in einem lesenswerten Buch gezeigt wurde[14], expandierten die europĂ€ischen Völker von den europĂ€ischen Gebirgen (den Alpen, den Skandinavischen und den osteuropĂ€ischen Bergketten). WĂ€hrend es im Mittelmeerraum seit etwa 5000 Jahren hoch entwickelte Kulturen gab, begann eine solche Entwicklung nördlich der Alpen erst vor ungefĂ€hr 2500 Jahren. In dieser FrĂŒhzeit (Hallstatt Kultur, Expansion des Römischen Reiches ĂŒber die Alpen, Christianisierung von Zentraleuropa) war das nördliche Alpenvorland und besonders der Bodenseeraum (mit dem Bischof von Konstanz und den Klöstern St. Gallen und Reichenau) das politische, kulturelle und spirituelle Zentrum Zentraleuropas.

Nach diesem Abstecher in vergangene Zeiten geht es jetzt zurĂŒck zur aktuellen politischen Entwicklung.

Die “Alpine Familie”

  1. CIPRA ist eine NGO, die sich seit 60 Jahren fĂŒr eine nachhaltige Entwicklung der Alpen einsetzt. Sie ist eine Dachorganisation mit ungefĂ€hr 100 Mitglieds-Organisationen, Vertretungen in Deutschland, Frankreich, Italien, Liechtenstein, Österreich, Schweiz, Slowenien und SĂŒdtirol sowie einer Zentrale in Liechtenstein und war der Hauptakteur, der dazu beitrug, dass die Alpenkonvention geschaffen wurde. Sie arbeitet mit einer Doppelstrategie: von oben nach unten (Alpenkonvention) und von unten nach oben (Projekte und Initiativen).

[15]

  1. Die Arge Alp war innerhalb Europas der erste Zusammenschluss von staatlichen und teilweise autonomen Einheiten auf der Ebene unterhalb des Nationalstaates und ist im Wesentlichen eine Organisation der regionalen Politiker. Sie wurde vor 40 Jahren gegrĂŒndet, die Initiative kam aus Tirol (Eduard Wallnöfer) und SĂŒdtirol (Silvius Magnago) und auch aus Bayern (Afons Goppel). Ihre GrĂŒndung markierte das Ende der heißen Phase des SĂŒdtirol Konflikts zwischen Österreich und Italien (der bis vor die VN gebracht wurde und einen frĂŒheren Beitritts Österreichs zur EU verhinderte) und der folgenden EuropĂ€isierung der SĂŒdtirolfrage. Die Mitgliedsregionen sind (GrĂŒndungsmitglieder): Baden-WĂŒrttemberg, Bayern (D), Salzburg, Tirol, Vorarlberg (A), Trient, SĂŒdtirol, Lombardei (I), St. Gallen, Tessin, GraubĂŒnden (CH). Trient trat 1973 bei, St. Gallen 1982, Tessin 1988 und Baden-WĂŒrttemberg 1992.[16][17]
  1. Die Europaregion Tirol-SĂŒdtirol-Trentino ist eine Fusion dieser drei Regionen in eine transnationale Region und hat 2011 die Rechtsform eines EVTZ (EuropĂ€ischer Verbund fĂŒr regionale Zusammenarbeit – eine von der EU geschaffene Rechtsstruktur) angenommen.[18] Sie ist ein weiteres Ergebnis der EuropĂ€isierung des SĂŒdtirol-Konflikts und ist, wie man an der Geschichte der Arge Alp sehen kann, tatsĂ€chlich der Kern der alpinen Integration, so wie Frankreich/Deutschland der Kern der EuropĂ€ischen Integration ist.

[19]

  1. Die Alpenkonferenz ist das regelmĂ€ĂŸige Treffen der Staaten, die die Alpenkonvention unterschrieben haben, die erste Alpenkonferenz fand 1989 statt. Die Alpenkonvention ist ein international Vertrag ĂŒber den umfassenden Schutz und die nachhaltige Entwicklung der Alpen zwischen der EG (spĂ€ter EU) und den 8 Alpenstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Liechtenstein, Österreich, Schweiz, Slowenien und Monaco, wurde 1991 unterschrieben und in den folgenden Jahren ratifiziert. Sie umfasst ein Gebiet von190.600 kmÂČ und eine Bevölkerung von 13,9 Millionen.

 

[20]

  1. In der EU gibt es auf der einen Seite den EuropĂ€ischen Rat (Treffen der Regierungschefs) und auf der anderen Seite die direkten EU Institutionen (Kommission, Parlament 
). Diese haben den Alpen das Alpenraum-Programm gegen, ein transnationales Kooperationsprogramm (im Euro-Slang: eine EuropĂ€ische territoriale Zusammenarbeit – ETZ) im Rahmen der KohĂ€sionspolitik der EuropĂ€ischen Union (einer Politik, die darauf abzielt, die Unterschiede zwischen den EuropĂ€ischen Regionen zu verkleinern).[21] Die EU KohĂ€sionspolitik wurde in einer Serie von 7-Jahres-PlĂ€nen umgesetzt (der aktuellen deckt 2007-2013 ab und der nĂ€chste wird bis 2020 laufen) und steht in der aktuellen Periode fĂŒr ungefĂ€hr ein Drittel (oder 347 Milliarden) des gesamten EU Haushalts.[22] Der grĂ¶ĂŸte Anteil dieses Geldes wird fĂŒr KohĂ€sion (d.h. fĂŒr die Finanzierung von „rĂŒckstĂ€ndigen“ Regionen) ausgegeben und nur ein kleiner Anteil fĂŒr territoriale Kooperation[23], fĂŒr die Alpen sind dies 130 Millionen fĂŒr 2007-2013.[24] Die ersten AnfĂ€nge des Alpenraum-Programms gehen bis 1997 zurĂŒck und seine Partnerstaaten sind die der Alpenkonvention (außer Monaco). Aber wĂ€hrend die Alpenkonvention nur das Kernland der Alpen (den alpinen Bogen) abdeckt, umfasst das Alpenraum-Programm auch das Alpenvorland mit einigen wichtigen GroßstĂ€dten (wie MĂŒnchen, Wien, Ljubljana, Mailand, Lyon und ZĂŒrich) und hat somit eine GrĂ¶ĂŸe von 390.000 kmÂČ und eine Bevölkerung von 70 Millionen. Es hat ein permanentes Sekretariat in Innsbruck (und eine Zweigstelle in Bozen).

[25]

  1. In einer Zeit, in der die EU sich wegen der globalen Krise neu definiert und auf den nĂ€chsten 7-Jahres-Plan von 2014-2020 vorbereitet, wurde ein neues Konzept geboren. Im EU-Jargon heißt dieses Konzept: Makroregionale Strategie. Sie wird definiert als „integriertes Rahmenwerk, die es den Mitgliedsstaaten der EuropĂ€ischen Union erlaubt, BedĂŒrfnisse zu erkennen und verfĂŒgbare Ressourcen zuzuordnen.”[26] Eine makroregionale Strategie ist ein Schritt weg von zentraler Planung und Umsetzung, hin zu dezentraler Planung und Umsetzung. Die EU hat schon zwei makroregionale Strategien: die Strategie fĂŒr den Ostseeraum (vom EuropĂ€ischen Rat im Juni 2009 genehmigt) und die Strategie fĂŒr den Donauraum (Dezember 2010). Arbeit an der Entwicklung der makroregionalen Strategie fĂŒr Alpenraum lĂ€uft seit 2009 in der Arge Alp, der Alpenkonvention und dem Alpenraum-Programm und wird voraussichtlich 40 Regionen aus 7 Staaten mit einer Bevölkerung von 50 Millionen umfassen.

Wege zu einer makroregionalen Strategie fĂŒr den Alpenraum

Im Mai 2010 unterschrieben die Regionen Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Trient, GraubĂŒnden und Bayern eine ErklĂ€rung. An der Strategie wurde auf den jĂ€hrlichen Regierungschef-Konferenzen der Arge Alp gearbeitet (41. in Eppan im Juni 2010, 42. in Zell am See im Juli 2011, 43. in Bad Ragaz im Juli 2012). Auf der XI. Alpenkonferenz (Brdo MĂ€rz 2011) wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet[27], die der XII. (Poschiavo, September 2012) Bericht erstattete. Das Alpenraum-Programm arbeitet seit Mai 2011 an einem integrativen Prozess fĂŒr eine EU Strategie fĂŒr den Alpenraum mit der Ausarbeitung von Dokumenten durch externe Experten als Basis fĂŒr Stakeholder Dialoge.[28] Weitere Regionen stießen zur Stategieentwicklung auf Konferenzen in BrĂŒssel (November 2011)[29] und Grenoble (Januar 2012), auf der Konferenz der Alpenregionen in Bad Ragaz (Juli 2012) und auf der Konferenz der Alpenstaaten und Alpenregionen anlĂ€sslich der Feierlichkeiten fĂŒr das 40jĂ€hrige Bestehen der Age Alp in Innsbruck (Oktober 2012). FĂŒr die Alpen war 2012 ein Jahr der inhaltlichen Arbeit und Debatte mit dem Ergebnis, dass das Netzwerk sich vergrĂ¶ĂŸerte, der rĂ€umliche Geltungsbereich definiert, Inhalte erarbeitet und Einfluss auf die EU Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten ausgeĂŒbt wurde. Österreich und Frankreich haben den Vorschlag dem EuropĂ€ischen Rat vorgelegt. FĂŒr das FrĂŒhjahr wird ein sichtbares Ergebnis erwartet, anlĂ€sslich einer am 21. Februar 2013 in Mailand stattfindenden Konferenz des Alpenraumprogramms.[30]

In Bad Ragaz wurden drei Ziele fĂŒr eine makroregionale Strategie fĂŒr den Alpenraum beschlossen, weil hier gemeinsame Anstrengungen einen deutlichen Vorteil gegenĂŒber einzelstaatlichen Lösungen bieten. Diese drei Ziele sind:

  • Förderung von Innovation und WettbewerbsfĂ€higkeit in dieser prosperierenden Region
  • Gemeinsame Strategien fĂŒr Wasser, Energie, Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Klima
  • Entwicklung von LösungsansĂ€tzen bezĂŒglich der Zunahme des alpenquerenden Verkehrs und der Anbindung der schwer zugĂ€nglichen Bergregionen

Und schließlich soll die makroregionale Strategie fĂŒr den Alpenraum einen Steuerungsrahmen bieten, „der eine Zusammenarbeit aller wesentlichen Ebenen der Regierungen und Verwaltungen erlaubt“.[31]

Eine solche verteilte Selbst-Regierung lĂ€uft im gerade ablaufenden Prozess tatsĂ€chlich schon ab: Weil die Alpen und das umliegende Vorland ein relativ reicher Teil Europas sind, ist es nicht ĂŒberraschend, dass in der Situation der weltweiten und europĂ€ischen Krise die regionalen Politiker ein großes Gewicht darauf legen, die Leistungen dieser Regionen zu schĂŒtzen, und dieses Anliegen als Hauptziel in das Papier von Bad Ragaz aufgenommen haben. Auf der anderen Seite drĂŒcken CIPRA und die Alpenkonferenz ihre Sorge aus, dass die mit der Alpenkonvention erreichten Errungenschaften nicht verwĂ€ssert werden sollen, und die EuropĂ€ische Kommission versucht, das nicht Kontrollierbare zu kontrollieren. Alle Mitspieler machen sich Gedanken darĂŒber, wie das Geld fĂŒr 2014-2020 verteilt werden soll. Um diesen Prozess zu illustrieren, sollen hier drei Stimmen dokumentiert werden:

Luciano Caveri, ehemaliger PrĂ€sident der Region Valle d’Aosta:

“Eine alpine Makroregion ist ein Schritt hinaus ĂŒber die Alpenkonvention und EU Mittel: Regionen werden das Wort ergreifen..”[32]

Eine PresseerklÀrung von CIPRA:

“Die Umsetzung der Alpenkonvention hin zu einer erweiterten Alpenregion, der Makroregion Alpen soll verstĂ€rkt werden. Das mit diesem einzigartigen Staatsvertrag Erreichte muss als minimaler Standard fĂŒr den Schutz und die nachhaltige Entwicklung auch einer erweiterten Alpenregion gesetzt werden. 
 Eine neue SolidaritĂ€t zwischen den beteiligten Akteuren im Alpenbogen und in den Metropolen ist gefragt.”[33]

Johannes Hahn, EU Kommissar fĂŒr Regionalpolitik:

“Die Alpenregionen haben lange Erfahrung in der Zusammenarbeit und sie haben einige der am besten etablierten und ausgereiften Verwaltungen in Europa. Sie sind gut positioniert, um selbst neue Formen der Kooperation umzusetzen. Es ist nicht notwendig, der EuropĂ€ischen Kommission dabei eine formale Rolle zuzuweisen.”[34]

Trends, die den makroregionalen Prozess prÀgen

Zeiten mit großen Turbulenzen brauchen das Gleichgewicht der Öko-Systeme

Die stĂ€ndige Herausforderung, die fragilen Öko-Systeme der Alpen ins Gleichgewicht zu bringen, ist und war eines der stĂ€rksten Motive fĂŒr die regionale Zusammenarbeit und Integration. Die gegenwĂ€rtige weltweite systemische Krise ist in der Tat eine Zeit großer Turbulenzen (politische InstabilitĂ€t, wirtschaftliche Unsicherheit, klimatische Turbulenzen) und intensiviert somit die Notwendigkeit, daran zu arbeiten, das Gleichgewicht herzustellen. Also ist es in der Welt, die aus der Krise hervorgeht, nicht genug, sich auf existierende Prozesse zu verlassen, wir sehen vielmehr eine Notwendigkeit fĂŒr völlig neue Verfahren und Lösungen, die aus intensivierter Achtsamkeit kommen.

Die Alpen sind durch ihre gemeinsame Geschichte geprÀgt

1919 sah die Zerschlagung des Habsburger Reiches[35], das seinen Ursprung in einer Burg in der Schweiz hat, von dort in die angrenzende Alpenregionen (Baden-WĂŒrttemberg, Vorarlberg, Tirol, Slowenien, Lombardei, Franche-ComptĂ©) expandierte[36], seinen Mittelpunkt nach dem Aufstand der Schweizer nach Österreich verlegte, von dort die osteuropĂ€ische Macht Österreich-Ungarn aufbaute und vom Ende der Staufer bis zum Ende des Reiches die meisten deutschen Kaiser stellte. 1919 ging SĂŒdtirol an Italien durch den Vertrag von Saint-Germain.

Weil Österreich nach dem zweiten Weltkrieg in einer schwĂ€cheren Position als Italien war, blieb SĂŒdtirol bei Italien und Italien blockierte die Umsetzung der vertraglich vereinbarten Autonomie. Die Situation eskalierte in Terrorismus (mit einer möglichen Verwicklung von Gladio) und wurde 1972 durch andauernde Verhandlungen und internationalen Druck auf die italienische Regierung gelöst. Die regionalen Politiker, die ihre Hoffung auf eine Vereinigung innerhalb Österreichs aufgeben mussten, erreichten eine Vereinigung Tirols als Europaregion. Die Dynamik einer friedlichen Beilegung eines langen Konflikts machte diese Region zu einem Motor der alpinen Integration.

Die EU ist mehr als die EU

Obwohl die EU als politisches Gebilde klar definierte Grenzen hat, gilt das nicht fĂŒr ihre KohĂ€sionspolitik und ebenfalls nicht fĂŒr ihre makroregionalen Strategien; sie umfassen viele Regionen, die politisch nicht zur EU gehören. Dies gilt fĂŒr die existierenden makroregionalen Strategien fĂŒr den Ostseeraum und den Donauraum. In den Alpen haben wir die Schweiz (und Liechtenstein) als integralen und  sehr aktiven Teil aller alpinen Netzwerke. Dies gibt den alpinen Netzwerken eine zusĂ€tzliche StĂ€rke und Dynamik.

Der Druck fĂŒr eine Ausweitung föderaler und dezentralisierter Strukturen

Die vielen Grenzen, an denen die relativ kleinen Staaten Österreich und die Schweiz teilhaben und die spezifischen Fragen, die hier gelöst werden mĂŒssen, bewirken in der Tendenz, dass die regionalen Politiker als “Staatschefs” mit einem Netzwerk an “Außenbeziehungen” agieren.[37] Das wird gefördert durch die föderalen, bzw. dezentralisierten Strukturen der Schweiz, Deutschlands, Österreichs und Italiens. Jeder dieser Staaten hat ein einzigartiges politisches System; die Schweiz, deren Verfassung den Kantonen eine „kleine Außenpolitik“ erlaubt, hat den stĂ€rksten Föderalismus und die direkteste Demokratie. Die Schweiz, Deutschland und Österreich haben eine zweite Parlamentskammer, deren Mitglieder von den LĂ€ndern bzw. Kantonen bestimmt werden. In Italien stagniert der Prozess, die Verfassung in eine föderale Verfassung umzuwandeln, aber das System wurde in den vergangenen Jahren dezentralisiert (autonome Regionen behalten 90% ihres Einkommens). Und in Frankreich gibt es einen wachsenden Druck, in diese Richtung zu gehen, was man auch an der Ausweitung des alpinen Netzwerks nach Frankreich erkennen kann.

Wohlstand der alpinen Regionen

Die Alpen sind eine EuropĂ€ische Region mit einer relativ homogenen wirtschaftlichen Struktur, die bedingt ist durch die relative homogene natĂŒrliche Umgebung. Typisch fĂŒr dieses Gebiet ist nicht groß angelegte Massenproduktion, sondern technologische Innovation in Netzwerken aus mittelstĂ€ndischen Unternehmen und UniversitĂ€ten. Viele Faktoren haben zu diesem Wohlstand beigetragen: politische StabilitĂ€t und der daraus resultierende Zustrom von Kapital, die Kraft, die sich aus der Überwindung natĂŒrlicher Herausforderungen ergibt, die Lage in der Mitte Europas und spezifische historische und politische Bedingungen. Dies hat in Italien und in Deutschland dazu gefĂŒhrt, dass die Politiker der nördlichen Regionen Italiens und der sĂŒdlichen Regionen Deutschlands in Konflikt mit ihren Regierungen geraten. Die italienische Lega Nord und die bayrische CSU haben sehr verschiedene Programme, Ă€hneln sich aber darin, dass sie ihren Regierungen immer wieder Kopfschmerzen bereiten.

Antizipation der weiteren Entwicklung des Prozesses

Das Entstehen der makroregionalen Strategie fĂŒr den Alpenraum ist ein Teil des Übergangs, den Franck Biancheri in seinem Buch “Nach der Krise: Auf dem Weg in die Welt von Morgen”[38] beschreibt. Seine Ergebnisse werden hier zur Analyse des Prozesses verwendet:

Struktur und GrĂ¶ĂŸe

Die PresseerklĂ€rung von CIPRA vom August 2012[39] fĂŒhrt aus: „
 der Zug fĂŒr eine Makroregion Alpen (ist) in Bewegung, und kein wichtiger Akteur will ihn verpassen.“ Andere Stimmen sind skeptischer und sagen, dass man nicht vorhersagen kann, was in BrĂŒssel entschieden wird. Wieder andere sagen (und wir wollen uns dem anschließen), dass es nicht so wichtig ist, auf BrĂŒssel zu starren, sondern dass das existierende Netzwerk fĂŒr sich spricht. Dieses Netwerk existiert und arbeitet, wurde durch den gemeinsamen Prozess der letzten beiden Jahre gestĂ€rkt und ist sehr reif. Dies zeigt, dass in Euroland (in einer durch die weltweite Krise transformierten EU) Prozesse sich nicht von oben nach unten, sondern in Netzwerken entwickeln, und in der Tat sich selbst entwickelnde Prozesse sind.[40]

Eine offene Frage ist, ob die stÀdtischen Regionen Teil der alpinen Makroregion sein sollten. Sie gehören nicht zum Gebirge, aber sie gehören zu dem Gebiet, dass durch eine gemeinsame Geschichte geformt ist und sie wollen mitmachen. Sie werden also dazugehören, aber möglicherweise werden die Grenzen der alpinen Makroregion nicht starr sein, zum Beispiel wenn sich die politische Situation in einer der Regionen Àndert.[41]

Ein weiterer Punkt ist noch erwĂ€hnenswert: Das alpine Netzwerk ist im Wesentlichen ein Netzwerk von regionalen Politikern und NGOs und ist somit noch Teil der „alten Welt“. Unter den BĂŒrgern sehen wir einen wachsendes Misstrauen gegen Politiker und Verwaltung, aber auf der anderen Seite eine historisch bedingt starke Identifikation mit ihrer Region.[42]

Förderung von Innovation und WettbewerbsfÀhigkeit in dieser prosperierenden Region

Die Einbeziehung dieses Ziels ist nichts Neues fĂŒr eine EU mit marktliberalen Prinzipien, aber sie zeigt, dass die Ziele der regionale Politik der EU angepasst werden mĂŒssen. Von einer Welt, die daran glaubt, „alle gleich zu machen“ und Probleme durch eine zentrale Geld-Gießkanne zu lösen, bewegen wir uns jetzt in eine Welt, die die Einzigartigkeit von jedem einzelnen anerkennt und aus autarken Gemeinschaften besteht. In dieser Welt werden wir nicht jeden gleich machen (wie Prokrustes, der den Leuten die Beine abhackte, um sie in sein eisernes Bett zu passen), sondern nur darauf achten, dass jeder die gleichen Möglichkeiten hat, um sich entsprechend seinen Talenten zu entwickeln. In dieser Welt werden auch Parlamente (die ein Ausdruck der Idee, dass jeder gleich ist, sind) weniger Bedeutung haben und Netzwerke von Experten werden an Bedeutung gewinnen.

FĂŒr prosperierende Regionen bedeutet das nicht, dass sie das Geld bekommen, das jetzt an die armen Regionen geht, sondern dass sie Raum bekommen, sich nach ihren FĂ€higkeiten zu entwickeln. Dies wird ohne Änderungen im Geldsystem nicht möglich sein, damit nicht der Markt, sondern die BedĂŒrfnisse der Kommunen und Regionen den Kapitalfluss bestimmen.[43]

Gemeinsame Strategien fĂŒr Wasser, Energie, Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Klima

Wieder sehen wir, dass wir uns aus der Welt der Gießkanne in eine Welt bewegen, in der die Umwelt nicht als ein zu lösendes Problem gesehen wird, sondern  als ein Öko-System, dessen Teil wir sind und in dem wir unseren Beitrag zum Gleichgewicht im ganzen System leisten mĂŒssen[44], aus einer Welt der Systeme und Strukturen in eine Welt des Gleichgewichts.

Auch mĂŒssen in dieser Welt von Morgen mit ihrer wachsenden Interdependenz Fragen, die bis jetzt ausgeklammert wurden, angegangen werden. Diese Fragen, die die Politik nicht angeht und in denen sie sich nicht bewegt, werden mehr und stĂ€rker von BĂŒrgerbewegungen auf die Tagesordnung gesetzt. Eine solche Frage ist der Schweizer Plan, ein nukleares Endlager im nördlichen Alpenvorland, einer geologisch instabilen Region, zu bauen. Auch wenn die Schweiz fĂŒr ihre Nuklearanlagen verantwortlich ist, kann diese Frage nur von der ganzen Gemeinschaft gelöst werden.

Entwicklung von LösungsansĂ€tzen bezĂŒglich der Zunahme des alpenquerenden Verkehrs und der Anbindung der schwer zugĂ€nglichen Bergregionen

Wieder sehen wir, dass wir uns aus einer Welt der System und Strukturen in eine Welt bewegen, in der die BedĂŒrfnisse der BĂŒrger etwas bedeuten. Hier ist die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ein gutes Beispiel. Die Schweizer stimmten gegen HochgeschwindigkeitszĂŒge (da sie in einem kleinen gebirgigen Land keinen Sinn machen), stattdessen wurde ein beispielhaftes Eisenbahnsystem entwickelt.[45] Da bewĂ€hrte Praktiken durch das Netzwerk verbreitet werden, gibt es eine Chance, dass das gute Beispiel der Schweiz auf den ganzen Alpenraum ausgedehnt wird. Ein Vorschlag, der bei den BĂŒrgern sehr gut ankommen wĂŒrde, besteht darin, die einzelstaatlichen Autobahnvignetten durch eine einzige Alpine Autobahnvignette zu ersetzen. Dadurch wĂŒrde die Akzeptanz bei den BĂŒrgern wachsen (da sie dann nur einmal bezahlen mĂŒssen) und Anreize geschaffen, um die Verkehrsplanung und –Finanzierung zu integrieren.

[46]


[1] http://www.presseurop.eu/de/content/news-brief/2287911-neuer-block-im-herzen-des-kontinents

[2] http://www.argealp.org/presse-publikationen/aktuelles/alpenraum-soll-herzkammer-europas-werden

http://it.argealp.org/stampa-pubblicazioni/attualita/l-arco-alpino-come-ventricolo-d-europa            

[3] http://europa.eu/abc/12lessons/lesson_2/index_de.htm           

[4] http://www.cipra.org/de  

[5] www.argealp.org             

[6] http://www.newropeans-magazine.org/content/view/13280/431/lang,english/   

[7] http://www.europaregion.info/default_de.htm                                          

[8] Trentino (Autonome Region Trient) ist im Gegensatz zu SĂŒdtirol mehrheitlich italienischsprachig.

[9] http://www.alpconv.org/pages/default.aspx

[10] http://www.alpine-space.eu/about-the-programme/programme-in-short/          

[11] http://www.interact-eu.net/macro_regional_strategies/macro_regional_strategies/283/3921        

[12] Bernard Soulage, VizeprÀsident RhÎne-Alpes und Mitglied des Ausschusses der Regionen der EuropÀischen Union

[13] http://en.wikipedia.org/wiki/Matterhorn   

[14] Martin Freksa: Genesis Europas, Berlin 2011

[15] http://www.cipra.org/de/netzwerke/netzwerke/cipra-netzwerk-de_2011.jpg     

[16] Geschichte der österreichischen BundeslÀnder seit 1945, Liebe auf den zweiten Blick von Herbert Dachs, Ernst Hanisch und Robert Kriechbaumer von Böhlau, Wien 1998

[17] 40. JubilĂ€um der Arge Alp, siehe auch der Video auf  http://www.argealp.org/presse-publikationen/aktuelles/jubilaeumsfeier-40-jahre-arge-alp-in-moesern-seefeld-in-tirol     

[18] http://www.europaregion.info/de/611.asp , http://ec.europa.eu/regional_policy/cooperate/cooperation/egtc/index_en.cfm  

[19] http://www.europaregion.info/default_de.htm        

[20] http://www.alpconv.org/de/organization/parties/default.html

[21]http://www.youtube.com/watch?v=ZnzVm3KsTRQ&feature=plcp&context=C310708aUDOEgsToPDskJlyPSsXBKyHWB_3i-_T1jG   

[22] http://europa.eu/legislation_summaries/agriculture/general_framework/g24231_de.htm

[23] http://www.nordregio.se/en/Metameny/About-Nordregio/Journal-of-Nordregio/2006/Journal-of-Nordregio-no-2-2006/EU-cohesion-policy-2007-2013/

[24] http://www.alpine-space.eu/about-the-programme/erdf-co-funding/  

[25] http://www.alpine-space.eu/headmenu/national-information/

[26] http://www.alpine-space.eu/information-center/news/detail/article/the-alpine-regions-will-seek-a-macro-regional-strategy-for-the-alps/?tx_ttnews[backPid]=62&cHash=d836976a9a   

[27] http://www.alpconv.org/de/organization/groups/WGMacroregionalstrategy/default.html             

[28] http://www.alpine-space.eu/fileadmin/media/Newsletter/121026_ASP_Newsletter_October.html              

[29] http://www.stmug.bayern.de/eu/regional_zusammenarbeit/argealp.htm

[30] http://www.alpine-space.eu/fileadmin/media/Downloads_in_about_the_programme/Announcement.pdf 

[31] http://www.argealp.org/presse-publikationen/aktuelles/alpenraum-soll-herzkammer-europas-werden

[32] https://twitter.com/EGTCPlatform/status/274068166697680896/photo/1         

[33] http://www.cipra.org/en/press/press-releases/pr/a-new-solidarity/?set_language=en       

[34] RĂŒckĂŒbersetzung aus dem Englischen, da leider das deutsch Original fehlt:

http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/hahn/headlines/news/2012/10/12/index_en.cfm           

[35] Ein Reich, in dem am Höhepunkt “die Sonne nie unterging” und das durch Heiraten expandierte: “Alii bella gerunt, tu felix Austria nube!”

[36] http://en.wikipedia.org/wiki/File:Habsburg_Map_1547.jpg 

[37] Ein interessantes Beispiel fĂŒr diesen Trend: Lothar SpĂ€th, ein frĂŒherer MinisterprĂ€sident von Baden-WĂŒrttemberg, begann “’Vier Motoren fĂŒr Europa”, ein Zusammenschluss von Baden-WĂŒrttemberg, Katalonien, der Lombardei and RhĂŽne-Alpes.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13496346.html

http://www.4motors.eu/?lang=de                    

[38] Nizza 2010, http://www.anticipolis.eu/de_3_presentation.php?                          

[39] http://www.cipra.org/de/presse/medienmitteilungen/mm/neue-solidaritat/?set_language=de                       

[40] Es zeigt auch, dass eine Verfassung fĂŒr Euroland etwas ganz anderes sein sollte als die gescheiterte EU Verfassung, sie sollte ein sehr kurzes Dokument sein, das nicht versucht, alles zu formalisieren.

[41] Der Rat der Lombardei von Roberto Formigioni wurde von einem Korruptionsskandal erschĂŒttert:

http://www.ft.com/intl/cms/s/0/cc625766-160f-11e2-9a8c-00144feabdc0.html#axzz2HE6h7oHS  

[42] Im Jahr 2010 starteten einige Mitglieder der Schweizer SVP eine Initiative, die Schweizer Verfassung so zu erweitern, dass benachbarte Regionen sich der Schweiz anschließen können. Die Initiative lief ins Leere, jedoch berichtete eine Schweizer Zeitung ĂŒber mehrere Umfragen in benachbarten Regionen, in denen die Mehrheit sich fĂŒr einen Anschluss an die Schweiz aussprach: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Nichts-wie-weg-von-den-Pleitegeiern/story/26501241           

[43] Die Schweiz ist das erste Land, in dem eine Volksabstimmung ĂŒber eine Reform des Geldsystems vorbereitet wird, siehe: http://vollgeld.ch/

[44] Ein sehr hoch entwickelter Prozess ist EMAS (European Eco-Management and Audit Scheme). Es ist ein sich selbst verbessernder Kreislauf, in dem eine Organisation Ziele definiert und sich dann kontinuierlich in Bezug auf die Ziele verbessert, siehe http://www.emas.de/ueber-emas/         

[45] Die “Oben-Bleiber” in Stuttgart wĂŒrde am liebsten die Deutsche Bahn durch die SBB ersetzen.

[46] http://www.alpconv.org/en/organization/groups/WGMacroregionalstrategy/default.html             

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