Gegenwärtig arbeiten auf der ganzen Welt Millionen von Ärzten unter kriegsähnlichen Bedingungen. Das erinnert mich an meinen Großvater und meinen Vater. Mein Großvater arbeitete während des gesamten Ersten Weltkrieges und nochmal während des Zweiten Weltkrieges als Militärchirurg. Mein Vater war während des gesamten Zweiten Weltkriegs Sanitäter und danach angehender Arzt in amerikanischen und französischen Lagern, bis er schließlich 1948 entlassen wurde. Er war ein guter Vater, aber er konnte nicht sprechen und ich konnte nicht hören: -> Sie konnten nicht sprechen. Wir konnten nicht hören. Er gehörte zu der Altersgruppe, die im Alter von 17 Jahren die Schule vorzeitig beendete, das war 1937. Er wollte Ingenieur werden, aber sein Vater erklärte ihm: “Wenn du den Krieg überleben willst, dann studiere Medizin”. Er bewarb sich um ein Medizinstudium, wurde eingezogen und war dann Sanitäter und Medizinstudent. Er sah die Westfront und dann den langen Krieg in Russland bis Stalingrad. Er sammelte seine verwundeten Kameraden auf und behandelte sie. Zwischendurch wurde er zum Studium an die Universität geschickt. Im Sommer 42 fühlte er sich krank, unterdrückte dies aber, weil er wusste, dass jede Krankheit dem Studieren ein Ende setzen würde. Dann kam Stalingrad. Gegen Ende der Schlacht erhielt er einen Marschbefehl zur Universität Freiburg. Er schaffte es mit einem der letzten möglichen Transporte. Als er wieder zu Hause war, brach eine Hepatitis aus, danach nahm er 1944 sein Studium in Freiburg wieder auf. Freiburg wurde 1944 bombardiert und die Medizinische Fakultät nach Niedersachsen verlegt. Seinen Professoren gelang es, die medizinischen Abschlussprüfungen einschließlich der Doktorarbeit abzuhalten. Am Ende des Krieges war er ein normaler Soldat in Norddeutschland mit einem Papier in der Tasche, auf dem stand, dass er Arzt war. Die Soldaten warteten und dachten, der Krieg sei vorbei. Das waren die letzten Briefe, die meine Familie erhielt. Seine Einheit wurde gefangen genommen und der amerikanischen Armee übergeben. Aus einem Brief eines früher entlassenen Kameraden weiß ich, dass mein Vater in Remagen, Sinzig und Andernach war, dort sah es so ähnlich aus:
Mein Vater war nie in der Lage, über diese Monate zu sprechen. Alles, was er manchmal sagte, waren kurze Sätze wie “Das war das Schlimmste, was ich in meinem ganzen Leben je erlebt habe”. Es gibt Hunderte von Augenzeugenberichten: Keine Registrierung, Hungerdiät, zu wenig Wasser, kein Dach über dem Kopf, Regen, … Der Status dieser Soldaten (aus normalen Wehrmachtseinheiten; SS und hohe Nazis waren in anderen Lagern) war der von “entwaffneten feindlichen Streitkräften” (disarmed enemy forces – DEF), d.h. es gab keine Inspektionen des Roten Kreuzes in diesen Lagern. Ein Rot-Kreuz-Foto eines aufgelösten Lagers:
Aber dies war auch eine Reise von Hoffnung und Enttäuschung. Sie wurden nicht entlassen, sondern in weitere Lager nach Frankreich geschickt. Auch in Frankreich war das Essen knapp und von schlechter Qualität, aber mein Vater wurden mit seinen Papieren in den “Depots” als Arzt verwendet. Deshalb bekam er mehr zu essen, wurde aber sehr spät entlassen. Ich hörte ihn viele Male über Frankreich sprechen, und er besuchte Frankreich gerne, um Franzosen zu treffen, die ihm geholfen hatten. Er sprach gerne französisch und traf sich gerne mit Franzosen.
Mein Vater war schwer traumatisiert, tat aber viel, um sich zu heilen. Er arbeitete hart als Hausarzt, aber man konnte immer sehen, dass er dies 10 Jahre lang während des Krieges getan hatte. Sein Körper war in keinem guten Zustand, aber er wurde 86 Jahren alt. Etwa zu dieser Zeit begann ich, sein Schicksal zu sehen und zu verstehen. Und dadurch konnte ich auch anfangen, mein Leben zu verstehen, das so chaotisch gewesen ist, wie man es sich nur vorstellen kann. 2002 kehrte ich zu meinen Eltern zurück und half ihnen bei ihrem täglichen Leben bis zu ihrem Tod, beide starben 2006 zu Hause. Wir befinden uns jetzt im Corona-Jahr 2020, aber auch im Jahr 75 nach 1945, dem Ende des letzten Krieges. Der Bundespräsident hatte für den 8. Mai einen Staatsakt geplant, der aber wegen Corona nicht stattfindet: -> Staatsakt aus Anlass des 75. Jahrestage des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 2020 in Berlin abgesagt 1945 war auch das Jahr der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Es gab kleine Veranstaltungen zum Gedenken daran, das war letzte Woche in Dachau: -> Söder und Aigner gedenken der Opfer des Nationalsozialismus Wenn ich auf mein Leben und das meiner Altersgenossen und auf das Leben meines Vaters zurückblicke, wird sehr klsr, dass ein Gedenken an die Leiden der Deutschen, ob Flüchtlinge aus dem Osten oder hungernde Zivilisten und DEFs, ein Akt der einfachen Menschlichkeit und der Heilung unseres kollektiven Schicksals ist. Deshalb ist dieser Thread meinem Vater und den vielen anderen deutschen Soldaten und ihrem Leiden als DEFs in amerikanischen Lagern gewidmet. Ihr Schicksal muss bekannt gemacht und gesehen, dokumentiert, von Historikern erforscht und von ihren Söhnen und Töchtern in Liebe erinnert werden, …