aus: http://www.newropeans-magazine.org/content/view/11749/1/lang,english/
Durch die Auseinandersetzung um das Projekt „Stuttgart 21“ ist die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart zu einem der Brennpunkte Europas geworden. Eine Mehrheit der Bürger, sowohl in Stuttgart, als auch in Baden-Württemberg, als auch in Deutschland, lehnt das Projekt ab[1] [2], eine zunehmend irrational agierende Landesregierung hält dagegen zusammen mit dem Vorstand der Deutschen Bahn rücksichtslos an dem Projekt fest. Diese Rücksichtslosigkeit hat am Donnerstag, den 30.9., in Stuttgart mit dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die für den Schutz ihres Parks demonstrierenden Bürger einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.[3] Die Irrationalität hat eine Woche später einen neuen Höhepunkt erreicht: wie bei einem Tarifkonflikt wurde Heiner Geissler als Vermittler bestellt, dieser verkündete vor laufenden Kameras, dass sowohl Mappus als auch Grube einem Baustopp zugestimmt hätten, was, begleitet vom heftigen Einlassungen des Koalitionspartners FDP, von diesen Herren umgehend dementiert wurde.
Irrational erscheint das Vorgehen dieser Herrschaften, wenn man sie am verfassungsgemäßen Anspruch, Volksvertreter zu sein, misst. Doch sie sind nicht dumm, sie sind „Käpsele“[4], wie Herr Geissler formulierte. Die Rationalität des Vorgehens von Mappus, Grube, Schuster, Merkel und Co. erschließt sich dann, wenn man sich klarmacht, um wie viel Geld es hier geht. Es geht um milliardenschwere[5] Aufträge[6] des „privatwirtschaftlich organisierten Staatsunternehmens“[7] Deutsche Bahn AG an diverse Konsortien von Bauunternehmen. Die Highlights dieses Milliardentopfes sind der Bau eines Systems von Tunneln und die Vermarktung der durch die Verlegung des Bahnhofs in den Untergrund „oben“ freiwerdenden Flächen. Das, was als einer der Kritikpunkte des Projektes gesehen wird, nämlich die lange Bauzeit im Untergrund und die unvorhersehbaren geologischen Risiken und die damit verbundenen Kostenrisiken, sind aus dieser Sicht nur von Vorteil. Da die Verträge extrem auftragsnehmerfreundlich gestaltet sind (Kostenrisiko beim Auftraggeber) bedeutet das, dass sich umso mehr Geld verdienen lässt, je länger der Bau dauert und je höher die Kosten sind.[8]
Die dabei entstandenen Strukturen haben auch schon einen Namen: Stuttgart 21 Kartell. Einen guten Überblick bietet die gleichnamige, creative-commons-lizensierte Website stuttgart-21-kartell.org, oder auch die Zusammenfassung Das Stuttgart 21-Kartell“ aus www.leben-in-stuttgart.de. Bei stuttgart-21-kartell.org heißt es über die gebildeten Strukturen: „Bei Stuttgart 21 geht es nicht um die Schurken-Taten von ein paar wenigen S21-Machern. Es geht um das schuldhafte Versagen eines inzwischen korrupt gewordenen „Elitesystems“. Ein politisches „Elitesystems“, die als Dienstleister für Großinvestoren und Banken agieren.“[9]
Interessant ist dabei die Rolle unserer Volksvertreter. Bei stuttgart-21-kartell.org wird der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim mit folgenden Sätzen zitiert:
„Wenn ein Politiker sich in die Dienste eines Interessenten begibt, sich von ihm bezahlen lässt, manchmal sehr hoch, ist das für mich eine Form der Korruption.“
„Es gilt als ganz normal und selbstverständlich, dass ein Abgeordneter neben seinem Einkommen, das er vom Steuerzahler bezieht, auch noch Einkommen von an der Gesetzgebung interessierten Unternehmen oder Verbänden bezieht, sich also quasi in die bezahlten Dienste eines Lobbyisten begibt, das gilt als ganz normal, obwohl es eigentlich ein Skandal ist.“[10]
Dies ist allerdings noch nicht alles. Nicht nur stehen unsere Volksvertreter auf der Gehaltsliste von Unternehmungen, Stiftungen und „Think-Tanks“, sondern sie sind auch Inhaber von Unternehmungen, die an den Projekten verdienen. Beispiele dafür sind Frederike Beyer, die Lebensgefährtin von Günther Oettinger, und der Ex-Ministerpräsident „Cleverle“ Späth. Über Frederike Beyer heißt es bei stuttgart-21-kartell.org:
„Friederike Beyer, eine Veranstaltungsmanagerin aus Hamburg und dort Vorstandsmitglied in der Stiftung „Lebendige Stadt“ (ECE), ist die Lebensgefährtin von Günther Oettinger. Die ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG ist ein deutsches Unternehmen mit Hauptsitz in Hamburg, das gewerbliche Großimmobilien entwickelt, umsetzt, vermietet und betreibt. So auch im Plan: Das Vorhaben für das Stuttgart 21 A1-Areal, einem riesigen Einkaufszentrum an der Ecke Wolfram- und Heilbronner Straße in Stuttgart.“[11]
Und über Lothar Späth:
„Lothar Späth, früherer Ministerpräsident Baden-Württembergs. Nach der Segeltörn-Affäre ging der beliebte Landesvater aus dem Amt. Bis 1977 war Lothar Späth im Vorstand und Aufsichtsrat der Baresel AG. Heute ist er Aufsichtsratsvorsitzender der Herrenknecht AG, des europaweit führenden Herstellers von Tunnelbohrmaschinen. Dass er als Aufsichtsratschef dieses Unternehmens ausschließlich das Gemeinwohl im Sinne hat, wird auch durch die 70.000-Euro-Spende von Martin Herrenknecht an seine gute alte Landes-CDU deutlich.
Hier der Nachweis-Snapshot der geflossenen Spende:
Quelle: Deutscher Bundestag, Veröffentlichung von Spenden gemäß § 25 Abs. 3 Satz 3 Parteiengesetz
Im Herbst 2006 ist Späth vom damaligen Ministerpräsident Günther Oettinger zum Anführer (neben Walter Riester) der sog. Unterstützer für Stuttgart 21 berufen worden.“[12]
Diese Strukturen machen deutlich, dass nicht nur die auftragnehmenden Konsortien, sondern auch viele „Volksvertreter“ Vorteile von langen Bauzeiten und hohen Kosten haben.[13] Und er erklärt weiterhin die Aggressivität und die Rücksichtslosigkeit des Vorgehens gegen die Stuttgart-21-Gegener, wobei nicht vergessen werden sollte, dass Stefan Mappus schon eine beachtliche Aggressivität an den Tag legte, als er vor einigen Monaten seinen Vorgänger Günther Oettinger aus dem Amt drängte. Betrachtet man die Auseinandersetzungen der letzten Tage, muss man annehmen, dass die Durchsetzung des Projektes, und damit das Fließen von sehr viel Geld, für Stefan Mappus und Co. wichtiger ist, als ein Erfolg oder Misserfolg bei den im Frühjahr 2011 anstehenden Landtagswahlen.[14] Und genau aus diesem Grund wurde nun von den Parkschützern ein Prozess zur vorzeitigen Auflösung des Landtags durch eine Volksabstimmung angestoßen. Laut der baden-württembergischen Verfassung kann der Landtag aufgelöst werden, wenn ein Sechstel der Wahlberechtigten dies fordert.[15]
Zu beachten ist auch die Rolle der privatisierten, aber noch im Staatsbesitz befindlichen Deutschen Bahn AG. Mit der Privatisierung endete offensichtlich, wie tausende von Reisenden täglich feststellen müssen[16], der Anspruch, für den Bürger da zu sein, stattdessen, ist man nun, mit oder ohne Börsengang, in erster Linie für den Shareholder da, bei einem möglichen Börsengang steht die „öffentliche Daseinsvorsorge“ ganz auf dem Spiel.[17] Der private Charakter des Unternehmens, das ja nichts anderes ist als privatisiertes Volkseigentum, wird als Grund dafür angeführt, warum die Bürger nicht entscheiden sollen[18] und der Staat das Unternehmen vor den protestierenden Bürgern schützen muss.[19]
Kommen wir nun zu den Bedingungen, unter denen all dies möglich wurde. Zu nennen sind hier erstens die Tatsache, dass die CDU in Baden-Württemberg seit 1953 ohne Unterbrechung den Ministerpräsidenten oder sollte man besser sagen den „Landesfürsten“[20] stellt. Dies bedeutet, dass in diesem Land, abgesehen durch kleinere Turbulenzen verursacht vom Koalitionspartner SPD, die Top-Beamten nie durch dem anderen Lager zugehörige Beamte ausgewechselt wurden. Und zweitens die Tatsache, das sich unserer Wirtschaftssystem seit den neunziger Jahren auf aggressive Art und Weise transformiert hat. Der ex-Vorsitzende des urschwäbischen Konzerns Daimler-Benz Edzar Reuter beschreibt dies in einem Interview anlässlich der Vorstellung seines Buches „Stunde der Heuchler. Wie Manager und Politiker uns zum Narren halten” sehr klar:
„Und um Gottes willen: ich schelte ja auch nicht alle Unternehmer, die auf dem Gebiet der Wirtschaft tätig sind und fabelhafte Initiativen durchführen, Unternehmen führen, Arbeitsplätze sichern. Darum geht es ja nicht. Ich rede ja von einer bestimmten Schicht, die sich selber als Elite der Nation versteht, und man darf dabei eben nicht vergessen, dass es unzählige Menschen gibt, die Verantwortung tragen, auf die diese Diagnose, von der Sie eben zurecht gesprochen haben, nicht zutrifft. Aber bewegt wird diese Gesellschaft ja doch zu einem großen Teil von denjenigen, die sich eben selbst als Eliten verstehen, und denen gilt meine Kritik.“
„Ich denke, es hat sich als Folge der Globalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges plötzlich eine Situation ergeben, in der weltweit mit Geld agiert werden konnte. Bis dahin galt im Grunde genommen das Gesetz der normalen Unternehmen, die wir alle kennen gelernt haben. Die stellten mehr oder minder anfassbare Produkte her. Seit dieser Globalisierung und das ganze begleitet natürlich vom Prozess der Digitalisierung, des Aufkommens der Informationsgesellschaft, der Möglichkeiten, in Sekundenschnelle rund um die Welt Geld zu disponieren, in diesem Zusammenhang ist plötzlich ein neues Phänomen entstanden: das Geld hat sich verselbständigt, ist zum Produkt geworden. So sagt man ja heute. Und mit diesem Produkt konnte man durch Spekulationen, durch Zockerei, aber teilweise auch durch seriöse Geschäfte im 0,0 ganz schnell gewaltige Mengen Geld verdienen, und das ist das, was neu war. Das hat es bis dahin in dieser Form nicht gegeben.“[21]
Von den Projektbefürwortern wird als Hauptargument die „demokratische Legitimierung“ des Projektes angeführt. Wenn also ein mehrheitlich vom Volk abgelehntes Projekt von seinen „Vertretern“ auf Stadt-, Landes- und Bundesebene durchgewinkt wird, dann zeigt uns das die Grenzen unseres Systems der repräsentativen Demokratie. Dies ist nicht verwunderlich, befindet sich doch „der Westen“ in einem ähnlichen Umbruch, wie es vor zwanzig Jahren „der Osten“ war.[22] Für mich heißt das, dass es notwendig ist, die Demokratie entsprechend den sich verändernden Bedingungen und den neuen technischen Mitteln weiterzuentwickeln. Wir haben die Demokratie aus dem Kampf erst der Aristokratie und dann des dritten und vierten Standes um Mitbestimmung geerbt, sie ist aber immer nur Teilhabe geblieben, bei der das Volk seine Rechte von seinen Vertretern einfordern muss, und hat sich nie in eine wirkliche „Herrschaft des Volkes“ transformiert. Das Bewusstsein für diesen Misstand ist gestiegen und folglich mehren sich in letzter Zeit die Forderungen nach Ausweitung von Volksbegehren und –entscheiden und direkter Demokratie, auch und gerade in Deutschland, dessen Volk angeblich nicht die Reife für Volksentscheide hat, und eine Mehrheit der Bevölkerung würde ein Schweizer System, in dem über wichtige Projekte vom Volk abgestimmt hat, unserem System vorziehen.
Unser derzeitiges System entspricht den derzeitigen Anforderungen nicht mehr, punktuelle Volksabstimmungen zu einzelnen Themen haben aber auch viele Nachteile. Deshalb möchte ich die Einrichtung einer „permanenten Volksabstimmung“ vorschlagen. Das Verfahren sollte darin bestehen, elektronisch durch einen Zufallsprozess aus der gesamten Bevölkerung ein paar Hundert Entscheider auszuwählen. Diese Entscheider bilden dann einen permanenten Kongress und machen sich an die Arbeit, durch ihre Entscheidungen dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft sich optimal entwickeln kann und die Interessen aller Bürger bestmöglichst in Übereinstimmung gebracht werden. Ziel dieses Verfahrens ist es, das kreative Potential der normalen Bürger zu nutzen und die Misstände des jetzigen Systems abzustellen.
Christel Hahn*
Tengen, Deutschland[1] Siehe ARD-Deutschland-Trend:
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Protest_gegen_Stuttgart_21
[3] Ohne hier weitergehende Aussagen zu machen, muss man als objektiver Beobachter feststellen, dass, hätte ein solches Vorgehen in Moskau stattgefunden, dies zu kritischen westlichen Presseberichten darüber, wie menschenverachtend ein undemokratisches Regime gegen das Volk vorgeht, geführt hätte.
[4] Schwäbisch für „kluger Kopf“: http://www.undinger.de/dictionairle/schwaebisch/wort/168/
[5] Die offizielle Zahl für die Gesamtkosten ist derzeit 4,1 Milliarden, von jeweils etwa ein Drittel von der Bahn, von der Bundesrepublik Deutschland und von Baden-Württemberg, Stuttgart und weiteren Städten und dem Flughafen getragen werden sollen, siehe dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgart_21
[6] Einen guten kritischen Überblick über Kosten und Bedeutung des Projektes ist in folgendem Dokument der grünen Bundestagsfraktion zu finden: http://www.gruene-bundestag.de
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Bahn
[8] Es stellt sich die Frage, warum die öffentliche Hand das Risiko bei sich belässt und nicht Verträge formuliert, die das Risiko dem Auftragnehmer geben, unsere ach so marktwirtschaftlich orientierte Regierung verhält sich in diesem Punkt alles andere als marktwirtschaftlich.
[9] http://stuttgart-21-kartell.org/prolog
[10] Herbert von Arnim: „Staat ohne Diener: Was schert die Politiker das Wohl des Volkes?“, Kindler, München 1993
[11] http://stuttgart-21-kartell.org/tag/friederike-beyer
[12] http://stuttgart-21-kartell.org/allgemein/lothar-spaeth
[13] Ich selbst weiß von einem Fall, bei der die öffentliche Förderung eines Projektes nur dann genehmigt werden sollte, wenn ein Betrag, der 20% der Projektsumme entsprach, auf ein bestimmtes Konto überwiesen würde.
[14] Peter Hutsch, ex-Chef von Alcan Singen, auf die Frage, was er in seinem Ruhestand tun möchte: „Auch habe ich nicht das geringste Interesse daran, mit zukünftigen Beraterhonoraren oder Aufsichtsratsbezügen irgendwann der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein.“, aus: http://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/singen/Ein-Kaempfer-der-die-Menschen-kennt;art372458,4498372
[15] http://parkschuetzer.org/presse/Presseerklaerung_2010-10-04_Landtagsaufloesung.pdf
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,721127,00.html
[16] Eine gute Analyse des Ist-Zustands bietet der ex-CDUler Franz Alt: http://www.sonnenseite.com/index.php?pageID=95&article:oid=a17108
[17] http://www.campact.de/bahn/info/analysespd
[18] Interessant ist, dass jetzt Rechtsexperten des Bundestags einen Volksentscheid wegen der großen Ablehnung für zulässig halten: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2661303_0_9223_-bundestags-expertise-ausstieg-aus-projekt-machbar-.html
[19] Jetzt soll auch die Dauermahnwache vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof verschwinden, weil der Platz der Bahn gehört und damit nicht mehr öffentlicher Raum ist: http://parkschuetzer.org/presse/Presseerklaerung_2010-10-05_Mahnwache.pdf
[20] http://de.wikipedia.org/wiki/Baden-W%C3%BCrttemberg#Politik
[21] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1288582/
[22] Das „Europäischen Labors für politische Antizipation“ (LEAP, http://www.leap2020.eu/GEAB-in-Deutsch_r27.html) beschreibt den politischen und ökonomischen Aspekt dieses Umbruchs, daneben ist auch, wie von Edzar Reuter beschrieben, die Verwandlung in eine Informationsgesellschaft von größter Bedeutung. Dieser Umbruch ist auch die Daseinsberechtigung für Newropeans.